Vor einigen Monaten durfte ich die „Agile Transformation“ (also eine Veränderung in Richtung Agilität) in einem Konzern begleiten. Eines Tages – erste Teams arbeiteten produktfokussiert, kundenorientiert, selbstorganisiert und damit recht erfolgreich – kam die Frage auf, ob es nicht auch „Agile Karrierepfade“ (also Karrierepfade für Mitarbeitende in agilen Rollen), insbesondere für Scrum Master und Product Owner geben müsse. Und da es gerade so schön passt, da wir freiKopfler uns gerade des Themas Karriere annehmen, möchte ich meine damaligen Gedanken mit Euch teilen: Ich zitiere meine E-Mail, die ich Mitte 2017 an ein paar ausgesuchte Workshop-Teilnehmer und „Agile Köpfe“ geschickt hatte, hier weitestgehend im Original.

Und bevor ich es vergesse: Am 4. Juli um 16 Uhr findet übrigens unser kostenloses Webinar „Karriere frei denken“ statt, es gibt noch Plätze!

Hier nun also meine damaligen Gedanken:

Agile Karriere – Risiken und Nebenwirkungen

Wieso bzw. wofür braucht es überhaupt einen Karrierepfad für agile Rollen?

Aktuell ist es so, dass es im Unternehmen zwei Karrierepfade für Linienkarriere (also als Führungskraft und disziplinarische Vorgesetzte) und Fachkarriere (inkl. Projektmanagement) gibt, richtig? Natürlich liegt es da nahe, einen ebenbürtigen (Fach-) Karrierepfad für agile Rollen einzuführen. Tatsächlich besteht aktuell die Gefahr, dass sich manche gegen die Übernahme einer agilen Rolle entscheiden, da es ja nicht (zumindest nicht formal) auf ihre individuelle Karriereleiter einzahlt …

 

Aber sollten wir deshalb eine neue Möhre installieren?

 

Denn was anderes wäre ein „agiler Karrierepfad“ mit Stufen wie „Junior Scrum Master, Scrum Master, Senior Scrum Master, Agile Coach, Executive Agile Coach, …“? Ersetzt man dadurch nicht die intrinsische Motivation derjenigen, die immer bessere Scrum Master i. w. S. werden wollen durch einen extrinsischen Anreiz?

 

Jedenfalls simplifiziert man m. M. n. auf diese Weise vielfältige individuelle Entwicklungspfade und schränkt diese unnötigerweise auf einen vorgegebenen„Pfad“ ein – ich selbst zum Beispiel habe nie(!) operativ als Scrum Master gearbeitet. Ich sehe die Erfahrung als Scrum Master als eine mögliche und gute Basis, aber keinesfalls als eine zwingende Voraussetzung dafür, ein guter „Agile Coach“ zu sein. Beide Rollen sind ähnlich (insb. das Mindset) aber nicht zwingend aufeinander aufbauend.

 

Durch die Platzierung der Rollen auf einer linearisierten „Leiter“ suggeriert man m. E. ganz automatisch eine Wertigkeit, ein Wechsel vom „Agile Coach“ zum Scrum Master wäre also ein Rückschritt. Das schränkt automatisch den möglichen Lösungsraum für die Organisation und für das Individuum ein: Nehmen wir an, ich habe die „agile Karriereleiter“ vom Junior Scrum Master zum „Agile Coach“ erfolgreich durchlaufen. Ich war ein super Scrum Master und hatte Spaß dabei. Nun bin ich endlich zum „Agile Coach“ befördert worden und freue mich sehr darüber. Dummerweise stelle ich jetzt fest, dass mir diese Rolle weder Spaß macht noch wirklich gut liegt. Ich arbeite viel lieber ganz intensiv mit einem Team und bin da auch wirksamer als in meiner neuen Rolle als „Agile Coach“, in der ich mich verstärkt um übergreifende Themen kümmere, andere Scrum Master coache und mit wichtigen Stakeholdern arbeite. Aber soll ich wirklich freiwillig einen Schritt zurück auf der Karriereleiter gehen? Oder sogar unfreiwillig? Diese Situation ist weder für mich noch für die Organisation gut.

 

Dann hätten wir das gute alte Peter Prinzip in neuem, agilem Gewand …

 

 

Karrierepfade und Motivation

Ein weiterer Aspekt: Karrierepfade sollen ja u. a. motivieren – tatsächlich tun sie das, leider auf Kosten der intrinsischen Motivation! Karrierepfade und Jobtitel demotivieren aber auch! Nämlich immer diejenigen, die nicht befördert wurden! Egal wie scheinbar objektiv eine Beförderung erfolgt: Es wird immer Kolleginnen und Kollegen geben, die denken, dass diese Beförderung nicht verdient ist bzw. dass sie selbst die Beförderung mehr verdient gehabt hätten. Es entsteht Neid, Misstrauen („mit wem hat er/sie das denn ausgeklüngelt?“) und Demotivation.

 

Vielleicht hilft es, eine Ebene tiefer zu gehen: Was motiviert Menschen wirklich?

 

 

Der Verzicht auf einen Karrierepfad als natürlicher Filter

Meine These: Die Early Adopters und Early Majority, diejenigen, die von Agilität wirklich überzeugt sind, brauchen keine extrinsischen Anreize, um mitzumachen!

 

Diejenigen, die sich heute noch GEGEN eine agile Rolle entscheiden, weil sie anders besser Karriere machen können, müssen wir JETZT noch nicht unbedingt an Bord holen. Die folgen später nach, wenn sich Agilität als sinnvoll und erfolgreich durchgesetzt hat und lineare Karriere (hoffentlich) nicht mehr so wichtig ist.

 

Anders formuliert: Wenn wir nun einen Karrierepfad für agile Rollen einführen, schaffen wir m. E. einen falschen Anreiz für diejenigen, die eigentlich von der Idee nicht überzeugt sind, sich aber vielleicht eine leichtere Karrierealternative versprechen, einfach weil dieser neue Karrieretunnel noch nicht so überfüllt ist. Und wir ersetzen die intrinsische Motivation derjenigen, die sich auch so für Agilität engagieren wollen durch eine neue Möhre …

 

Trennung von Rolle und Entwicklung und Bezahlung

Ich wünsche mir, dass wir Rolle (Fachexperte im Entwicklungsteam, Scrum Master, Product Owner, „Agile Coach“, …) und persönliche Entwicklung voneinander trennen bzw. nicht durch eine Stufe auf der Karriereleiter künstlich manifestieren. Ich bin davon überzeugt, dass ich mich weiterentwickeln kann, ohne jedes Mal einen neuen Jobtitel zu bekommen und mich dadurch (bewusst oder unbewusst) gegenüber anderen abzugrenzen.

 

Persönliche Entwicklung kann durch Ausprobieren neuer Rollen oder durch Vertiefung einer Rolle und/oder durch flankierende Maßnahmen (Trainings, Coachings, Hospitationen, Auszeiten, …) erfolgen. Die jeweils individuell und situativ passende Weiterentwicklung folgt m. E. keinem Masterplan oder vordefinierten Karrierepfad sondern ist dynamisch und komplex. Warum also nicht regelmäßig dazu in den Dialog gehen? Mit Scrum Master, „Agile Coach“, Vorgesetztem, HR, Personalentwicklung und mit den direkten Kolleginnen/Kollegen (im Team) sowie mit einem Mentor?

 

Ich habe es bspw. selbst erlebt, dass ein QS-Experte zum Scrum Master wurde und danach dann ein Produkt als Product Owner übernommen hat. Wie seine Reise weiter ging, weiß ich nicht, aber diese Wechsel folgten keinem starren Karrierepfad (dafür wären sie wahrscheinlich eher kontraproduktiv gewesen) sondern dem jeweiligen Bedarf der Organisation und dem Interesse und Potenzial der Person.

 

Anne M. Schüller hat dafür einen, wie ich finde sehr eingängigen Begriff gefunden: Kletterwandkarriere statt Karriereleiter

 

Auch das Thema „Bezahlung“ möchte ich hier gerne abtrennen und ausklammern. In dem Thema bin ich weder Experte noch habe ich dafür eine einfache Lösung parat. Aber ich bin davon überzeugt, dass es keine klassische Karriereleiter benötigt, um eine faire Bezahlung hinzubekommen.

 

Menschenbild und Selektion und Förderung

Im vorherigen Gespräch mit Personalwesen/HR wurde ich von folgender Frage ehrlich gesagt leider etwas überrumpelt: „Aber wie können wir denn dann unsere Mitarbeiter beurteilen? Wie finden wir diejenigen heraus, die wir besonders fördern sollten?“ (Nagelt mich bitte nicht auf die konkrete Wortwahl fest, es ist schon ein paar Monate her.)

 

Heute würde ich (unhöflicherweise) mit einer Gegenfrage antworten: „Warum sollte man das tun?“

 

Natürlich verstehe ich die Idee, „Low-Performer“ und „High-Performer“ zu unterscheiden, um bspw. für ein kommendes, super-kritisches Vorhaben den besten Product Owner und die beste Scrum Masterin auszuwählen.

 

Erstens ist das m. E. für die VUCA-Zukunft etwas kurz gedacht:

 

  • Agile Teams sind ein komplexes soziales Konstrukt und das beste agile Team ist nicht zwingend aus den besten agilen Einzelpersonen zusammengesetzt – selbst wenn eine solche Beurteilung Sinn ergeben würde …

 

  • Selbst wenn wir eine Art „objektive Beurteilung von Personen in agilen Rollen“ hin bekämen, so wäre das immer eine eingeschränkte Sicht aus der jeweiligen Situation heraus. Wir wollen aber vor allem deshalb agil sein, weil wir uns einer hohen Komplexität und Dynamik ausgesetzt sehen, also unerwartbaren Veränderungen, Ungewissheit und „schwarzen Schwänen“. Wenn wir also heute Kriterien festlegen, mit denen wir „High-Performer“ und „Low-Perfomer“ identifizieren, dann können diese Kriterien übermorgen vielleicht schon wieder komplett kontraproduktiv sein, weil sich die Rahmenbedingungen gewandelt haben.

 

Und zweitens erscheint mir die Denkweise, in „Low-Performer“ und „High-Performer“ zu unterscheiden, als eine gute Gelegenheit dafür, einmal das eigene Menschenbild zu reflektieren, z. B. anhand der Theorie X/Y von McGregor.

 

theorie x/y mcgregorteufelskreis

 

(Mein Dank geht an Silke Luinstra für den „Teufelskreis des beobachteten Verhaltens“!)

 

Marktplatz statt Karriereleiter

Schauen wir doch einmal, wie das bei Selbstständigen wie mir funktioniert: Da gibt es keine übergeordnete Organisation, die mir ein bestimmtes Level bescheinigt.

(Ok, die Scrum Alliance vergibt inzwischen mehrstufige Scrum-Zertifikate für die unterschiedlichen Rollen … Das muss man aber 1) nicht nur positiv sehen und 2) ist das ja nur einer von vielen Aspekten und 3) die Scrum Alliance nur eine von vielen Organisationen.)

Ich sammele als Freiberufler vor allem Erfahrungen, Referenzen, meinetwegen auch Zertifikate und natürlich auch Kontakte, baue ein Netzwerk auf. Darüber werde ich angefragt bzw. damit bewerbe ich mich auf Projekte. Für jedes neue Engagement mit den jeweiligen Anforderungen muss ich mir neu Gedanken machen, welche meiner Erfahrungen und Kompetenzen mich zur passenden Besetzung machen und dies dann so kommunizieren.

 

Auch intern kann ich mir „Stellenbesetzung“ (also ein Platz in einem Team wird frei und jemand wird dafür gesucht) als Marktplatz vorstellen. Idealerweise ein Marktplatz, in dem das Team gemeinsam jemanden sucht, bspw. auch mit vorheriger Hospitation. Dafür braucht es keine Karrierestufen sondern ein situatives Matching.

 

Die Rolle von HR und Personalentwicklung in agilen Organisationen

Ich bin mir unsicher, ob es auch künftig noch HR und Personalentwicklung als zentrale Funktion geben muss und falls ja, wie groß und „mächtig“. Eine Rolle von HR kann ich mir künftig so vorstellen, dass sie dabei unterstützen, dass alle Mitarbeitenden ihre Stärken, Talente und Präferenzen besser erkennen und einsetzen und das dies auch sichtbar wird – denn nicht jeder kann sich gut verkaufen und nicht immer sind die besten Selbstdarsteller die besten Teamplayer …

 

Es geht m. E. wie gesagt weniger um „High-Performer“ versus „Low-Performer“ sondern um ein gutes situatives Matching! Es geht darum, für jeden Mitarbeitenden den situativ jeweils möglichst besten Einsatz zu finden und Weiterentwicklung zu ermöglichen. Ein guter Fachexperte kann auch einfach ein guter Fachexperte bleiben, sich in seiner Expertise weiterentwickeln, spannende Projekte machen, neue Facetten kennenlernen etc. Oder sie probiert etwas neues aus, wenn sie möchte (und das Potenzial dazu hat) – oder wenn ihre Fachexpertise nicht mehr (so sehr) benötigt wird. HR wäre dann eher Berater/Coach der Mitarbeitenden und Moderator eines internen Marktplatzes mit Aufgaben und Rollen.

 

Transformation als Chance

Ich persönlich strebe nicht nach Zertifizierungen. Allerdings sehe ich, dass der Markt (v. a. die Einkaufsfunktionen in großen Unternehmen) das nachfragt, also habe ich zuletzt sogar die CSP-Zertifizierung gemacht. (Das war meine ganz persönliche Entscheidung, manche Kollegen machen das nicht, dafür machen sie halt etwas anderes.)

 

Meines Erachtens sollten wir die Chance der „Agilen Transformation“ nutzen, um alte Zöpfe abzuschneiden! Ihr habt jetzt die Möglichkeit, andere/bessere Mechanismen zu etablieren und nicht alte Lösungen (mit all ihren Risiken und Nebenwirkungen) in die „agile Welt“ zu übertragen.

 

Alternative Karrierepfade für agile Rollen sind eine einfache Lösung, um den nachvollziehbaren Wunsch mancher Mitarbeitenden zu erfüllen. Meines Erachtens wäre das aber nur Linderung von Symptomen. Ich wünsche mir, den Wunsch nach einem „agilen Karrierepfad“ zu hinterfragen und die dahinterliegenden Bedürfnisse (meine These: Anerkennung, Wertschätzung, Orientierung, Weiterentwicklung und Sichtbarkeit) zu identifizieren. Und erst dann eine zu den Bedürfnissen UND zur agilen Haltung passende Lösung entwickeln! Vielleicht sogar in kleinen Schritten … agil … Inspect and Adapt 😉

 

Soweit meine spontanen Gedanken dazu …
Ist ganz schön viel geworden …
Vielleicht verarbeite ich das auch irgendwann einmal in einem Blogartikel oder so.

 

Und noch ein paar passende Artikel:
https://intrinsify.me/podcast-warum-360-grad-feedbacks-auf-den-management-friedhof-gehoeren/
https://intrinsify.me/jobtitel-kann-man-sie-einfach-ersatzlos-streichen/

Tja … ist wirklich ganz schön viel geworden … deshalb noch einmal zur Erinnerung: Am 4. Juli um 16 Uhr findet unser kostenloses Webinar „Karriere frei denken“ statt, es gibt noch Plätze!

Als Vorgeschmack darauf noch ein Video – wir unterhalten uns über darüber welche Karrierewege in der Zukunft noch Thema sind, was sich ändern wird:

Und hier noch der Link zum ursprünglichen Artikel von Guido: Wo Unternehmen ihr Klima wandeln, wird es Zeit Karriere neu zu denken

Wir freuen uns auf Eure Kommentare, auf fröhliches Teilen und auf Eure Teilnahme am Webinar!